Die Abtreibung ist nichts anderes als die Tötung eines Menschen – eines ungeborenen Menschen zwar, aber eines, der nach christlicher Auffassung vom ersten Augenblick der Empfängnis als imago Dei, als Ebenbild Gottes, angesehen wird. Der noch nicht geborene Mensch wird im Rahmen des geltenden staatlichen Rechtes nicht als volles Rechtssubjekt angesehen, obwohl er schon erbberechtigt ist, anders ist es nicht zu erklären, dass seine Tötung zwar als rechtswidrig angesehen wird, aber gleichwohl in den ersten drei Monaten seiner Existenz und nach einer Beratung für straflos erklärt wird. Damit steht fest, dass der ungeborene Mensch, sollten die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, getötet werden darf, ohne dass der Staat diese Tötungshandlung für verwerflich erklärt und sanktioniert. Damit macht der Staat letztendlich keinen strafrechtlichen Unterschied mehr zwischen der Zerstörung einer eigenen Sache und der Tötung eines ungeborenen Menschen. Diese Negierung kann nicht ohne Konsequenzen sein. Wir wollen deshalb hierüber mit dem Theologen und Philosophen Kardinal Gerhard Ludwig Müller sprechen und uns einer Frage nähern, die durch die Wahl des amerikanischen Präsidenten Joseph Biden an Aktualität gewonnen hat.
Lothar C. Rilinger: Können Sie sich vorstellen, dass in der rechtlichen Qualifikation eines menschlichen Lebewesens ein Unterschied besteht, je nachdem, ob es geboren oder noch nicht geboren ist?
Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Die Rechtsordnung zielt auf das Zusammenleben der Menschen auf der Basis der Moral, die sich vor allem in der Anerkennung der fundamentalen Menschenrechte ausdrückt. Wir sind überzeugt, dass der wirkliche, und nicht nur der abstrakt gedachte, also leibhaftige Mensch niemals als Zweck und Instrument für etwas anderes existiert. Das ist die Grundlage unseres Menschenbildes und das Kriterium für alle Ethik. Das Gegenteil ist der Ausgangspunkt aller Inhumanität. Stalin meinte, dass die Gefangenen des GULAG nur soweit noch ein Recht auf Leben haben, als sie z.B. für den Bau des Weißmeerkanals von Nutzen sind. Himmler, der Chef der berüchtigten SS, sagte, ihn interessiere „das Leben von tausend russischen Weibern nur solange, bis sie den Bau eines Panzergrabens für die Wehrmacht fertig gestellt haben.“ Und das sind nur zwei besonders drastische Beispiele der abgrundtiefen Menschenverachtung in den Polit-Ideologien unserer Zeit. Wenn man der Meinung ist, es gäbe zu viele Menschen auf unserem Planeten, die die Ressourcen verbrauchen, kann man deswegen nicht die Tötung von Menschen im Mutterleib propagieren und praktizieren, ohne sich als Menschenverächter zu entlarven. Dies sagt auch Papst Franziskus ganz drastisch, auf den sich die Vertreter einer Reproduktionsgesundheit (sprich: Abtreibung) ansonsten sehr gern berufen.
Wenn sowohl der ungeborene, als auch der geborene Mensch als Ebenbild Gottes angesehen werden und dass deshalb kein Unterschied in der rechtlichen Einstufung als Mensch gemacht wird, verfügt deshalb der ungeborene Mensch wie der geborene über das Grund- und Menschenrecht auf Leben?
Es gibt viele Menschen, die die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht teilen, weil sie überhaupt nicht an Gott als unseren Schöpfer und Richter glauben. Eine dominante ideologische Richtung denkt sozialdarwinistisch. Das heißt: Wer sich im Lebenskampf durchsetzt, hat Recht und definiert es. Andere halten es sogar für eine Form von höherer Humanität, wenn nur – ihrem Urteil nach – „lebenswertes“ Leben geboren, also krankes Leben beseitigt wird, um zukünftiges Leiden zu vermeiden. Oder im Falle von Mehrlings-Schwangerschaften soll nur das Kind überleben, das den Eltern nach den eigenen Bedürfnissen und Vorlieben passt. In China hat man jahrzehntelang eine brutale, menschenverachtende Ein-Kind-Politik betrieben und Frauen zur Tötung ihres eigenen Kindes gezwungen. Wer nach den in der geistig-sittlichen Natur gelegenen Grundrechten denkt oder die letzten Kriterien für das Menschenbild dem geoffenbarten Wort Gottes entnimmt, kann niemals einen gerechten Grund finden, einen unschuldigen Menschen zu töten.
Wenn der Mensch sowohl im ungeborenen als auch im geborenen Zustand über das Menschenrecht auf Leben verfügt, können Sie sich vorstellen, dass gleichwohl in der rechtlichen Beurteilung bezüglich des Rechtsschutzes ein Unterschied gemacht wird?
Nicht nur an die Christ-Gläubigen, sondern an alle Menschen richtet das II. Vatikanische Konzil die Mahnung, die eine Magna Charta des Lebens auf der Grundlage der unveräußerlichen Menschenrechte ist: „Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.“ (Gaudium et spes, 27).
Es besteht rechtlich gesehen, die nicht rechtswidrige Möglichkeit, einen Menschen in Notwehr zu töten. Kann die rechtliche Konsequenz dieser Rechtsfigur auch auf die Abtreibung übertragen werden, dass also die Tötung ungeborenen Lebens unter bestimmten Voraussetzungen für nicht rechtswidrig erklärt wird? Ich denke hierbei an die rechtliche Regelung, wonach bei Vorliegen bestimmter Indikationen die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen ist.
Es gibt kein Recht (!), einen Menschen zu töten, weil dies dem 5. Gebot widerspricht. Bei der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung muss der Angreifer in Kauf nehmen, durch die gerechten Abwehrmaßnahmen gegen seine Übergriffe auf das Leben anderer selber zu Schaden zu kommen. Wenn der Angreifer außer Gefecht gesetzt ist, gibt es ohnehin kein Recht, ihn dann noch zu töten. Gefangene zu töten ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit (wie 1946 das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wegweisend feststellte). Auch aus der umstrittenen Todesstrafe für Schwerverbrecher, die hier nicht diskutiert werden soll, kann auf keinen Fall die Tötung eines unschuldigen Kindes im Mutterleib als Recht abgeleitet werden. Ich wundere mich über den eklatanten Widerspruch der politischen Eliten, die die Todesstrafe für Verbrecher ablehnen und zugleich die Tötung von unschuldigen Kindern mit dem Selbstbestimmungsrecht seiner eigenen Eltern oder dem Nutzen der Gesellschaft rechtfertigen.
Es wird inzwischen gefordert, das ungeborene Kind bis eine logische Sekunde vor der Geburt straflos und sogar rechtmäßig töten zu dürfen. Kann dies als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts der Frau angesehen werden?
Das ist der Gipfel der Inhumanität, dass der lebende, leibhaftig existierende Mensch zu einer frei verfügbaren Sache gemacht wird. Bei den Sexualdelikten gegen Kinder und Jugendliche haben wir zu Recht (und leider viel zu spät) den Perspektivenwechsel vom Täter zum Opfer vollzogen. Das Lebensrecht des Kindes steht haushoch über dem Selbstbestimmungsrecht der Eltern. Wir müssen vom Leben des Kindes und nicht von den Bedürfnissen und Interessen derer herdenken, denen es im Wege steht und die ihm gewaltsam das Leben nehmen. Beim Selbstbestimmungsrecht geht es um die Freiheit von Fremdbestimmung, die ich aber auch einem anderen gewähren muss. Die Kinder sind den Eltern nur zur Erziehung anvertraut. Die Eltern hingegen sind nicht Herr über Leben und Tod ihrer eigenen Kinder. Man könnte sagen, die ungeborenen Kinder können nicht das Unrecht in die Welt hineinschreien, das ihnen durch den Mord an ihrem Leben angetan wird. Sie sind auch nicht in der Lage, später ihre Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen. Aber das ist die Aufgabe der Christgläubigen und aller Menschen guten Willens, für die Schwachen einzutreten, auch wenn man dafür verleumdet wird. „Tu deinen Mund auf für die Stummen, für das Recht aller Schwachen.“ (Buch der Sprichwörter, 31, 8).
Können Sie sich vorstellen, dass die Abtreibung als eine Form der Empfängnisverhütung angesehen werden kann?
Empfängnisverhütung bedeutet, dass kein Mensch gezeugt und damit zur Existenz gebracht wird, während Abtreibung die Tötung eines gezeugten und damit existierenden Menschen ist. Die Methoden der Empfängnisverhütung sind ein anders Thema, müssen sich aber auch ethischen Kriterien stellen.
Die Straflosstellung der Abtreibung kann nur dann erfolgen, wenn die Frau sich zuvor über die Konsequenzen der Abtreibung hat beraten lassen. Halten Sie es für gerechtfertigt, dass sich die Kirche aus der Beratungspraxis zurückgezogen hat, mit der Folge, dass die Beratung jetzt im Wesentlichen nur noch als Formsache angesehen wird, um die gesetzlichen Voraussetzungen für die Straflosstellung der Tötung zu erfüllen?
Das Rechtssystem von Pflicht-Beratung und Freistellung der Abtreibung von rechtlichen Sanktionen gibt es in Deutschland und Österreich sowie in der Schweiz für junge Frauen bis zum Alter von 16 Jahren. Die Kirche ist katholisch-universal. Sie vertritt überall auf der ganzen Welt das unbedingte Lebensrecht der ungeborenen, der geborenen, der gesunden und kranken, der jungen und alten Menschen. Sie kann ihren Einsatz für die grundlegenden Menschrechte nicht abhängig machen von Gunst und Rechtsauffassungen der jeweils in den Staaten Herrschenden. Sie muss prophetisch, mutig und frei, aber auch kritisch-konstruktiv auf die Gewissensbildung und Rechtsauffassung einwirken.
Nach geltendem Recht wird die Abtreibung als rechtswidrige und schuldhafte Straftat, gleichwohl aber als straflos angesehen. Halten Sie es deshalb für gerechtfertigt, die Werbung für eine Straftat zuzulassen?
Es ist unlogisch, die Abtreibung moralisch zu verurteilen und als schweres Unrecht abzulehnen und zugleich die Propaganda für die „Tötung des Kindes“ (II. Vatikanum, Gaudium et spes, 51) zu legalisieren.
Da die Abtreibung in den ersten drei Monaten zwar als rechtswidrig erklärt wird, aber gleichwohl als straflos, ist das Recht auf Leben aufgeweicht worden. Können Sie sich vorstellen, dass durch diese Straflosstellung der Abtreibung die rechtliche Figur geschaffen wurde, um das Recht auf Leben geborener Menschen einschränken zu können?
Diese Rechtskonstruktion ist unlogisch, aber aus dem politischen Tauziehen zu erklären. Man wollte die Mütter nicht mit dem Strafrecht zur Fortsetzung der Schwangerschaft zwingen. Doch hat man die Begründung des Strafrechts durch die Moral dadurch nolens volens mit verheerenden Folgen für das öffentliche Moralbewusstsein preisgegeben. Auch ist die Grenze von drei Monaten willkürlich. Entweder ist der Mensch mit dem Beginn seiner leiblichen Existenz vom Augenblick der Empfängnis an eine Person und (nach Immanuel Kant) somit Zweck an sich oder er ist und bleibt sein Leben lang eine Sache (= Menschenmaterial), über die andere nach willkürlichen Kriterien verfügen können. Wenn man Menschen im Mutterleib oder Strafgefangene oder politisch missliebige Personen zur Organbank herabwürdigt, dann steht grundsätzlich das Leben jedes Menschen zur Disposition der politisch und finanziell Mächtigen.
Quelle: https://de.catholicnewsagency.com/article/abtreibung-und-das-menschenrecht-auf-leben-1290 23.3.2021